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Ukraine-Krieg wirkte sich auf SAT-Kongress von 2022 aus

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[Text: G. Mickle]

Kongress in Moskau abgesagt

Verglichen mit den katastrophalen Folgen des Krieges für die unmittelbar Betroffenen, war das Problem, das SAT betraf, nicht schwerwiegend. SAT musste sich Ende Februar plötzlich etwas einfallen lassen, als ihr für Moskau im August geplanter Kongress unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr so stattfinden konnte. Schade, denn nicht jedes Jahr findet der SAT-Kongress in einer geschichtsreichen Metropole statt. Der Ausweg war, den Kongress das dritte Mal in Folge per Internet stattfinden zu lassen – unter der Devise: „Für den Frieden durch Esperanto“.

Gemeinsame Erklärung der Entscheidungsträger

Das Vollzugskomitee und das Kongress-Organisationskomitee gaben einige Tage nach Kriegsanfang, am 3. März, eine gemeinsame Erklärung heraus, derzufolge „wegen der moralischen und praktischen Unmöglichkeit, einen SAT-Kongress in einem kriegführenden Land abzuhalten, der diesjährige Kongress nicht als Anwesenheitsveranstaltung stattfinden kann“, und sie sagten noch zum Krieg selbst: „Wir verurteilen die schreckliche Aggression der gegenwärtigen Regierung Russlands gegen das ukrainische Volk. Wir unterstützen die Anti-Kriegs-Bewegung in Russland, sowie EsperantistInnen, ArbeiterInnen, Studierende und Völker in der Welt, die Zivilisten in der Ukraine helfen. Diplomatie soll in der ganzen Welt handeln, um den Krieg zu beenden und Konflikte nicht zu fördern. Nein zum Krieg. Ja zum Frieden!“ Sie kündigten an, den Kongress in anderer Weise zu veranstalten.

Die Erklärung fand die Zustimmung vieler, aber nicht aller. Einige hielten sie für unausgewogen, wobei sie auf die Entstehungsgeschichte des Konfliktes und die Rolle der NATO hinwiesen. Nicht erstaunlich, denn die Meinungen in der esperantosprachigen Öffentlichkeit, auch in SAT, unterscheiden sich nur graduell von denen in den Gesellschaften, aus denen die Menschen stammen, und dort sind die Meinungen zum Krieg nicht nur widersprüchlich, sondern inzwischen eine Quelle von beträchtlicher Zwietracht.

Die Schärfe der Internet-Debatten in SAT vor dem Kongress ließen eine Konfrontation unvereinbarer Sichtweisen am letzten Tag des Kongresses vorausahnen. Dann wird nämlich die Deklaration des Kongresses debattiert. Es konnte nicht ausbleiben, dass der Krieg deren Hauptthema wurde. Am Ende wurde jedoch eine relativ große Meinungsübereinstimmung bei den Tagungsteilnehmern sichtbar, und kaum Streit. Die vorgeschlagenen Punkte für die Resolution hoben allerdings unterschiedliche Aspekte der Kriegssituation und ihrer weltweiten Implikationen hervor. In der Deklaration festgehalten wurden: die Verurteilung des russischen Aggressionskrieges gegen die Ukraine, aber auch anderer Kriege in der Welt, die Auflösung militärischer Allianzen zugunsten kollektiver Sicherheitssysteme, Abrüstung, Gegnerschaft zum Stärkerwerden militärischer und wirtschaftlicher Blöcke.

Arbeitssitzungen nehmen viel Raum ein …

In Arbeitssitzungen übte sich SAT in der direkten Demokratie, die traditionell den Kongress prägt. Geduldig arbeiteten die Teilnehmer Berichte durch und wählten Funktionsträger. Das Komitee der mit SAT verbundenen Landes- und Sprachgruppenorganisationen diskutierte Möglichkeiten der Gründung weiterer Verbände. Unzufriedenheit gibt es wegen der Störung bei der Erscheinung des SAT-Organs Sennaciulo, das jetzt wegen eines notwendig gewordenen Wechsels zu einer neuen Druckerei mit einiger Monate Verspätung erscheint. Dass der Rückstand aufgeholt wird, wird gehofft.

Thema einer Arbeitssitzung war der Webauftritt und der Gebrauch sozialer Medien. Unterschiedliche Meinungen gibt es über die Vorzüge verschiedener Plattformen wie Discord, Telegram, Jitsi. Es wird ein Technikausschuss gebildet, der das Erscheinen von SAT im Internet, sowie Verbesserungsmöglichkeiten, einschätzen soll. Außerdem sollen elektronische Werkzeuge wie Referenden ausprobiert werden, um mehr Mitgliederinteraktion zu ermöglichen und während des Jahres den Meinungsaustausch zu kontroversen Themen zu fördern. Ob Referenden nützlich seien, um den Standpunkt von SAT bei plötzlich auftretenden Weltereignissen wie dem aktuellen Krieg zu erarbeiten, oder lediglich, um herauszufinden, ob es in SAT überhaupt einen Konsens in einer bestimmten Frage gibt – darüber gingen die Meinungen auseinander.

Ein weiteres Thema war „Wie künftig Kongresse und wirksamere Mitgliederbeziehungen organisieren“ – wobei Internetplattformen wieder zur Sprache kamen.

Versammlungen der Plattformen (traditionell „Fraktionen“ genannt) sind bei einem Kongress im Internet nicht interne Treffen, sondern sind umstandshalber gemeinsame Ereignisse unter Leitung der Fraktionen. Je eine Stunde für teilweise sehr informelle Treffen hatten die Vegetarische Sektion, die Anationalistische, Kommunistische, Libertäre, Ökologische und die Freidenkerfraktion. Die Vegetarische Sektion erwägt wieder ein Vegan-Treffen im Schloss Grésillon (im westlichen Frankreich) 2023, nachdem es bereits 2018 ein solches gab.

… aber auch Kulturelles und Politisches

Zum Glück konnten zwei Bewohner des ursprünglich vorgesehenen Kongresslandes zum Kulturprogramm beitragen, zusammen mit Anderen, deren Beiträge auch im Zoom-Format gelangen:

  • Michail Bronstein besprach seinen historischen Roman Mi stelojn jungis al revado und dessen Hintergrund, nämlich die postrevolutionäre sowjetische Esperanto-Bewegung und ihre tragische Auslöschung in den 30er Jahren;
  • Xana Paz behandelte die Kolonial- bzw. Befreiungskriege und die Übereinkünfte zwischen Portugal, Angola, Mosambik und Guinea-Bissau – in einer Epoche, als revolutionäre Veränderungen anhaltende Kriege beendeten;
  • Michail Poworin, dessen geruhsamer Gesang eine willkommene Pause zwischen angespannten Arbeitssitzungen erlaubte;
  • Eine Diskussion über den Ukraine-Krieg konnte das Thema kaum erschöpfen, ermöglichte aber, Aspekte wie Nationalismus, Campismus, Geflüchtete anzudiskutieren, sowie den Wahrheitsgehalt (oder dessen Fehlen) in den im Umlauf befindlichen Kriegsinformationen.

Die Deklaration des Kongresses wurde debattiert

Die Debatte und Beschlussfassung über die Deklaration und die Leitungsresolution gingen unerwartet glatt über die Bühne, wenn die knappe Vorbereitungszeit und der Umfang der Anträge berücksichtigt werden. Von zwölf Punkten in der Deklaration waren nur drei ohne Bezug zum gegenwärtigen Krieg oder zu Kriegen allgemein. Was nicht überrascht in einem Jahr, in dem ein Krieg in einem Land tobt, das nicht weit weg von den Ländern der meisten Mitglieder liegt. Aber auch ein bedenkenswerter Hinweis, dass die geographische Verteilung der Mitglieder die Wahrnehmung – oder fehlende Wahrnehmung – von Weltereignissen maßgeblich beeinflusst. Dass SAT den in seinem Namen angedeuteten Anspruch hegt, „weltweit“ präsent zu sein, kommt in der Deklaration an der Stelle vor, wo der Kongress „auch alle anderen zur gleichen Zeit in der Welt stattfindenden Kriege und aggressiven Besatzungen scharf, wie u. a. in Syrien, Jemen, der DR Kongo, Palästina, Westsahara“ verurteilt.

Nächstes Jahr in Grésillon

Mangels anderer Vorschläge fiel die Wahl leicht: nächstes Jahr findet der Kongress im (in Besitz von Esperanto-Verbänden befindlichen) Schloss Grésillon in Westfrankreich statt – zum ersten Mal seit Barcelona 2019 nicht im Internet. Grésillon ist weit draußen auf dem Land, ein ruhiger Ort für eine manchmal anstrengende Tagung.

Gemischte Gefühle über Kongresse im Internet

Arbeitstagungen funktionieren auch durch Zoom ohne unüberwindliche Herausforderungen für die Teilnehmer. Auch das Kulturprogramm. Aber das Nicht-Programmgebundene, das Zwischenmenschliche ist bei einem Internet-Kongress anders, als bei einer Anwesenheitsveranstaltung. Es ist eher ärmlich, auf Gespräche in der ganzen Gruppe während der Pausen beschränkt, ohne die Spontaneität der sonst auf Kongressen üblichen Kontakte. Natürlich fehlt auch der touristische Teil des Programms.

Andererseits sind die Kosten für Anreise und Teilnahme an einem „normalen“ Kongress keine geringe Belastung für viele, und für einige ist der Kongress im Internet der einzige praktisch zugängliche. Ökologische Überlegungen werden möglicherweise die Entscheidung über die künftige Veranstaltungsart beeinflussen. Ein dem Namen nach „weltweiter“ Verband sollte nicht bemühen, nicht so eurozentrisch sein wie SAT (und überhaupt das esperantosprachige Milieu) bisher. Hat ein Kongress Teilnehmer aus mehreren Kontinenten, reisen zwangsläufig viele im Flugzeug an. Bedenklich für die, die auf ihren ökologischen Fußabdruck achten. Raffiniertere Internet-Werkzeuge und wachsende Routine der Anwender im Umgang mit ihnen werden Zusammenkünfte durch Internet künftig praktischer machen. Wieweit sie die jetzt wahrgenommenen Nachteile von Internet-Kongressen ausgegleichen, bleibt abzuwarten. Wir werden sehen, welche Aufteilung zwischen Anwesenheits- und Internetveranstaltungen den SAT-Mitgliedern genehm ist.

Deklaration des 95. SAT-Kongresses 2022

Der 95. Kongress des Anationalen Weltbundes (SAT), der vom 29. Juli bis 1. August 2022 durch das Internet stattfand,

  1. bedauert das Anwachsen von Nationalismus in vielen Ländern, der kriegsträchtige internationale Spannungen erzeugt und die internationale Zusammenarbeit behindert, die zur Bekämpfung der ökologischen Zerrüttung des Planeten notwendig ist;
  2. verurteilt den Angriffskrieg Russlands scharf, solidarisiert sich mit den Menschen in der Ukraine, die leiden, Widerstand leisten oder flüchten müssen, solidarisiert sich ebenfalls mit den Menschen in Russland, die leiden oder gegen den Krieg sind, entsprechend auftreten und dafür verfolgt werden, und solidarisiert sich mit Menschen überall in der Welt, die gegen Kriege Stellung beziehen und Geflüchtete unterstützen;
  3. verurteilt auch alle anderen zur gleichen Zeit in der Welt stattfindenden Kriege und aggressiven Besatzungen scharf, wie u. a. in Syrien, Jemen, der DR Kongo, Palästina, Westsahara;
  4. fordert in der längeren Perspektive, dass Kriege nicht mehr Instrument von Politik und Wirtschaftsinteressen sein sollen, und fordert dementsprechend die Auflösung aller Militärbündnisse einschließlich NATO, wobei diese durch kollektive Sicherheitssysteme zu ersetzen sind, an denen alle betroffenen Staaten teilnehmen, und deren Kernziel Abrüstung sein soll;
  5. nimmt betrübt zur Kenntnis, dass das schon seit mehr als 200 Jahren neutrale Schweden, in dieser Beziehung beispielgebend für andere Länder, und das seit mehr als 70 Jahren neutrale Finnland durch Beitritt zu einem Bündnis ihre militärische Neutralität aufgegeben haben;
  6. verurteilt die Verfolgung derer, die im Krieg auf beiden Seiten Berichterstattung leisten bzw. mit anderen, staatlichen Interessen entgegenstehenden Angelegenheiten befasst sind, und unterstützt die Arbeit von Journalisten;
  7. stellt fest, dass wachsende Ausgaben mehrerer Staaten für Kriegswerkzeug, sowie das Erstarken militärischer und wirtschaftlicher Blöcke, den Interessen arbeitender Menschen abträglich und für das Wohl der Völker bedrohlich sind;
  8. unterstützt indigene Völker, die in Kanada, USA, Brasilien und anderen Ländern die eigenen Territorien und Rechte gegen kapitalistische Extraktion verteidigen, und verurteilt die Intensivierung der durch den Ukraine-Krieg bedingten Energieextraktion;
  9. protestiert gegen den „juristischen Krieg“, der mitunter unter Beteiligung der reaktionärsten Teile der Justizmaschinerie gegen Arbeiter, Pazifisten usw. in vielen Ländern geführt wird;
  10. solidarisiert sich mit den Familien der Opfer des Unfalls in Seoul – bei dem drei Arbeiter durch Überschwemmung ums Leben kamen – Familien, die weiter für eine angemessene Entschädigung durch zuständige staatliche und betriebliche Stellen kämpfen, und fordert sicherere Arbeitsbedingungen für alle Arbeitenden weltweit;
  11. stellt fest, dass verschiedene Kirchen versuchen, die Trennung zwischen Kirchen und Staat aufzulösen, wodurch Probleme in Bioethik, Schulprogrammen, und in Bezug auf Kriege, wie zurzeit zwischen der Ukraine und Russland, enstehen;
  12. unterstützt die Selbstorganisation von LGBT-Personen zur Verteidigung ihrer Rechte, und verurteilt Aktivitäten von Kirchen, Staaten und anderen Akteuren, die die Verfolgung von LGBT-Personen ermutigen. nach oben

ĝisdatigo de 2022-08-18 / zuletzt geändert am 18. 8. 2022